Dies ist ein ebay-Foto eines Rades, das mir vor wenigen Minuten der DHL-Kurier brachte und das ich in England gekauft habe. Es sieht jetzt nicht nach viel aus, aber bald...
Wenn ich an den Aufwand denke, den ich in den letzten Tagen betrieben und Nerven, die ich zerschunden habe, um ein farbenfroh überlackiertes Rad (unter dessen später aufgetragener Farbschicht ich noch Originallack zu finden hoffe), das mit unzeitgemäßem Licht und Gepäckträger, behängt ist wie ein Christbaum, von England nach Deutschland hinein zu importieren, wird mir jetzt noch schwummerig.
edit: ich dachte zuerst, es könnte ein frühes "Hetchins" aus den späten 30er Jahren bis frühen 40er Jahren sein, entgegen den meisten Hetchins mit geraden Hinterbau, jedoch wunderschön verzierten "Chater Lea"-Muffen, "Williams" Kurbel, doppelter Gabelkrone, einem originalen, integrierten Steuersatz (in den 30er Jahren!) und ein "Osgear"-Typ Kettenstreben-Schaltwerk vom Hersteller "Simplex", doch aktuell geht die Vermutung eher in Richtung eines 1938er Holdsworth "Olympic" oder Holdsworth "La variable". edit ende
Das Rad ist lustigbunt angemalt, der Zustand auf den ersten Blick also schlecht, die Entfernung der Neulackierung wird aufwendig werden, ebenso die anschließend vielleicht nötige Rostentfernung, dennoch habe ich gerne den Auktionspreis bezahlt und die hohen Versandkosten eines 1,5 Meter langen und 17 kg schweren Sperrgutpaketes aus England - weil es mich begeistert hat. England verfügt über eine besonderes reiche Tradition im Radbau und die Beschäftigung damit ist mein besonderes Steckenpferd.
Sicher wißt Ihr, daß die integrierten Steuersätze erst wieder in den 90er Jahren aufkamen - nach dem Fachverständnis der meisten heutigen Zweiradmechaniker dürfte es dies Rad also gar nicht geben. Dazu die mehr als ungewöhnliche Schaltung, bei der wegen des Verzichtes auf Schaltröllchen ein überlanger Kettenspanner unter dem Tretlager bis nahe an den Boden heranreicht. Auch die Ausfallenden sind ungewöhnlich, eine lange, wie ein Dorn nach unten gerichtete Steuerkurve führt das Rad mit seinem Zahnkranz beim Ausbau (Panne) vom dem, an der Kettenstrebe montierten, empfindlichen, bronzenen Schaltwerk weg, dazu sind sowohl vertikale als auch horizontale Ausfaller vorhanden, um das Rad im Sommer mit Schaltung, im Winter mit starren Nabe fahren zu können.
Dieses Rad war unter seiner blauen Farbe kaum recht als das zu erkennen, was es ist, dennoch fanden sich genug Sammler ein, mit denen ich mich darum schlagen durfte, denn dem wache Sammlerauge war die wahre Identität des Gefährtes nicht entgangen. Den Verkäufer hat es gefreut, auch mich, denn ich traf einen Menschen, dem es wichtig war, das Rad seines Großvaters in bewahrenden Händen zu wissen.
Ich mußte ihm versprechen, es respektvoll wiederherzurichten.
Dies ist ein ebay-Foto des Verkäufers, wie es vor seinem Haus lehnt. Natürlich ist dieses Rad noch gänzlich unberührt von Putzlappen oder Messingbürste.
Dazu ein Foto des Ausfallendes, ich habe hier eines aus dem Internet genommen, weil ich kein gutes, klares meines Rades habe.
http://fotos.rennrad-news.de/photos/view/32081Ich werde bald bessere Fotos nachreichen.
Fröhliche Grüße
Peter
Viel Freude damit
Ach ich gucke mal selber im Netz.
Thanks!
hat mal einer 4000€ für ein Rene Herse? Wer is das eingentlich? Der Prinz vom Elfenbeinturm?
Grüße
Hallo,
nein - die Sehnsucht ist nicht verzogen, ich habe im vergangenen Monat sehr viel an diesem Rad gearbeitet und recherchiert. An einigen Tagen waren meine Hände so häufig in Kontakt mit altem Fett und dunkler Schmiere, daß ich eine dauerhafte Tätovierung befürchtete. Was ich vor der Eröffnung eines eigenen threads oder dem Hochladen weiterer Bilder sagen kann ist:
1. alle Lager, auch der intergrierte "Headclip"-Steuersatz sind in tadellosen Zustand, der gewiß den allenorten vorhandenen Schmiernippeln verdankt ist.
2. Die Gabel verfügt, obwohl aus den späten 30er Jahren bis frühen 40er Jahren, schon über "Socket"-Ausfallenden - nicht nur der integrierte Steuersatz war also seiner Zeit voraus (diese verschwanden zu Beginn der 50er Jahr, um erst 40 Jahre später wieder aufzutauchen), auch die Ausfallenden der Vorderradgabel würden einem Zweiradmechaniker arg zu denken geben, denn er würde niemals annehmen, es hätte sie damals schon gegeben.
3. Die Original-Farbe war wasserblauer Flamboyant-Lack. Ich konnte Reste der Originallackierung am Gabelschaft, im Steuerrohr und im Innenlager ausmachen. Eine befreundete Chemikerin, die in einem Farbenlabor arbeitet, hat die Farbe unter dem Mikroskop begutachtet, so daß ich nun zweifelsfrei die ehemalige Erscheinung der Grundlackierung kenne.
4. Ein befreundeter englischer Sammlerkollege aus dem VCC hat das Rad als ein Top-Erzeugnis der späten 30er bis frühen 40er Jahre eingeschätzt, eine leichtgewichtige Rennmaschine und keinesfalls das Stadtrad, als das es auf dem Foto noch daherkommt, wo so viele unpassende Teile, wie etwa der Gepäckträger, angebaut wurden. Es könnte ein "Holdsworth" sein, Muffen, Position der Seriennummer, verwendete Ausfallenden und Schaltung würden für ein "Olympic" oder "La variable" aus dem Jahre 1938 sprechen.
5. Die Schaltung ist nicht eine "Super Champion" (in England auch "Osgear" genannt), sondern die weit seltenere Kopie der Firma "Simplex". Das "Simplex" ist beinahe baugleich mit dem Osgear, ich werde vielleicht eine schöne, vergleichende Aufnahme beider Schaltungen nebeneinander machen.
6. Die Bremsen und Hebel sind vom Hersteller "LAM"
7. Eventuell werde ich die verbaute Williams "C34" Kurbel gegen eine bei mir vorhandene Williams "C1200" oder Chater Lea tauschen, denn die Kurbelarme wurden durch unfachmännische Demontage, wahrscheinlich mit dem Hammer anstatt der Keilpresse, arg in Mitleidenschaft gezogen. Zum Glück hatte das "Baylis Wiley"-Innenlager nichts mitbekommen.
8. Der Sattel ist in den 60er Jahren dazugekommen, es ist ein von "Wrights" hergestellter Sattel, der die Plakette des englischen Radbauers "Dawes" trägt, ebenso stammen die Schutzbleche von einem Dawes aus diesen Tagen und werden von mir gegen Bluemels "Noweight" aus Cellophan oder "Airweight" aus Aluminium ausgetauscht werden.
Geschuldete Fotos werde ich also bald hochladen, im Zuge der prüfenden Demontage habe ich ja schon eine Menge gemacht.
Leider sind unter den 5 Schichten Pinsellackierung nur noch aberwinzige Reste der Originallackierung vorhanden, so daß ich mir nun Gedanke mache, was ich weiter tun werde. Bis jetzt schwanke ich zwischen einer traditionellen Einbrennlackierung und einer, ebenso traditionellen, zwar handwerklich imperfekten, aber dafür mit charmanter Anmutung aufwartenden Pinsellackierung (mit einer schützenden Schicht Klarlack), die damals von den meisten Fahrern in Eigenleistung erbracht werden konnte, also aus musealer Sicht immer noch das geringere Übel im Vergleich zu einer Pistolenlackierung wäre, die zwar dauerhafter ist, dafür aber das Rad zu sauber und klar aussehen lassen würde, denn zum einen sind heutige Lacke sind weit besser als die damals gebräuchlichen, zum anderen würde die neue Lackierung die alten Teile optisch herausstechen lassen. Einige Beispiele von Pinsellackierungen haben mir sehr gefallen, die leichten Spuren, die die Hand des Malers hinterläßt, imitieren sehr überzeugend einen originalen, verwitterten Pistolenlack mit seinen Hubbeln und punktförmigen Unterrostungen. Hier werde ich also noch nachdenken müssen.
Grüße
Peter